Nur selten erfährt man mehr über sich selbst, als beim intensiven Blick auf seine Mitmenschen. Gerade in der Stadt bieten sich dazu jede Menge Gelegenheiten und nicht zuletzt in Bahnhofsnähe ergeben sich für den aufmerksamen Betrachter in der Regel vielfältige Anblicke und Eindrücke quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen. Diese Situation greift das in Regie der Jugendkunstschule im Nationalparklandkreis Birkenfeld entstandene Kunstwerk an der OIE-Trafostation Bahnhofstraße auf. Jugendliche Teilnehmer des Offenen Treffs der Jugendkunstschule haben in gemeinsamer Arbeit mit ihren Kursleitern im Rahmen einer Sponsoringvereinbarung mit der OIE die Außenflächen des dortigen technischen Gebäudes mit einem großflächigen Motiv nach eigenen Vorstellungen künstlerisch umgestaltet.

Gruppen-Foto aller Beteiligten vor dem Kunstwerk … (v.l.n.r. Derya, Lilly, Roland Palm, Victor Roubanov, Felix, Lisa und Sebastian)
Entstanden ist dabei ein vielschichtiger und mannigfaltiger Blick auf unsere Mitmenschen in urbaner Umgebung. Wer sich die Zeit nimmt, das entstandene Kunstwerk näher in Augenschein zu nehmen, wird so manche Situation wiedererkennen: seien es Menschen, die wie bunte Tupfer aus ihrer Umgebung hervorstechen, oder andere, die unauffällig wie eine graue Maus fast mit dem Hintergrund verschmelzen. Gegensätze treffen auf engstem Raum aufeinander. Viele Wege kreuzen sich eher zufällig, manche treten zueinander in Beziehung, etliche nehmen gar keine Notiz voneinander. Das Motiv unterstreicht sowohl Unterschiede, als auch Gemeinsamkeiten und bietet einen zeitgenössischen Blick auf den Alltag in der Stadt und die dort lebenden Menschen. Dabei kommen die jugendliche Wahrnehmung einer sich abzeichnenden Zukunft und die enormen Anstrengungen, die wir alle im Zusammenhang mit dem Klimawandel aufbringen müssen, um uns diesen Planeten als unsere Lebensgrundlage zu sichern, bei ausgewählten Motiven des Gesamtwerks zum Vorschein. Oft zweifeln die Jugendlichen an den mitunter schwer nachvollziehbaren Handlungen der Erwachsenen und auch diese düstere Sichtweise auf all das wird in dem Gemälde sichtbar. Dennoch bleibt inmitten des Bildes der Raum für Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft auf dieser Erde.
Die Arbeiten am Kunstwerk starteten witterungsbedingt im Frühjahr 2020. Aufgrund der Verhaltensregeln bezüglich der Corona-Pandemie konnte dieses Angebot der Jugendkunstschule nur relativ wenigen Jugendlichen zugänglich gemacht werden. So waren Derya, Felix, Lilly, Lisa und Sebastian über etliche Samstag-Nachmittage gemeinsam mit Martin Lehmann, dem kunstpädagogischen Leiter der Jugendkunstschule, Victor Roubanov und Roland Palm (beide Kursleiter der Jugendkunstschule) in öfter wechselnder Besetzung an der Verwirklichung der Gestaltungsidee beteiligt. Die jugendlichen Teilnehmer haben dabei vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichen Techniken, Arbeits- und Hilfsmitteln und natürlich auch unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen machen können. Besonders spannend war natürlich das Arbeiten in der Öffentlichkeit, sozusagen auf „offener Bühne“. Dass ein gutes Kunstwerk weitaus mehr, als reine Dekoration darstellt, war schnell an den Reaktionen der interessierten Öffentlichkeit erkennbar. Neben sehr viel Ermunterung und Lob von Passanten im Vorbeigehen und Freunden in den sozialen Medien, gab es auch kritisches Hinterfragen der sich abzeichnenden Motive auch in Zeitungsartikeln und Leserbriefen. Dass die Öffentlichkeit so klar erkennbar auf das Werk und die beteiligten Kunstschaffenden reagiert, ist von allen Teilnehmern als Anerkennung und Würdigung der geleisteten künstlerischen Arbeit zu verstehen und sollte Mut machen, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.
An der Wand zu malen war etwas Neues für mich. Eine Herausforderung, die aber doch Spaß machte. Für das nächste Mal habe ich schon eine Idee.
Derya
Ich bin glücklich mit der Zusammenarbeit, die stattgefunden hat und hoffe, dass wir irgendwann noch einmal so etwas gestalten dürfen! Denn ich werde mich jetzt immer ein bisschen freuen, wenn ich am Bahnhof bin und unser gemeinsames Werk sehe. Idar-Oberstein ist jetzt ein bisschen bunter.
Lilly
Manche sagten mir sie fühlen sich unwohl, wenn sie das Bild ansehen, also ich fühle mich unwohl wenn ich die Nachrichten sehe. Natürlich könnte man eine solche Art von Kunst auch in einer Galerie ausstellen, um niemandem auf die Füße zu treten. Dann sollten wir aber auch die Rassismus-Debatte in einer geschlossenen Whatsapp-Gruppe diskutieren und Klimademos in verlassenen Parkhäusern veranstalten.
Felix
Im Groben hätte ich aber gesagt, dass es die Zustände am Bahnhof und Idar-Oberstein kritisiert, dabei aber auch einen Hoffnungsschimmer in den zahllosen Gesichtern der Masse sät.
Sebastian
Ich war gespannt auf das Zusammenspiel der einzelnen Akteure, die erstmals an einem gemeinsamen Bild arbeiteten und jeder Kompromisse eingehen musste, um den anderen Raum für die eigene Vorstellung der Farb- und Formgebung zu lassen. Entstanden ist ein spannendes Bild mit vielen Aspekten in einem tollen Farbspektrum und jeder Akteur hat seine individuellen Spuren hinterlassen. Es war sehr interessant, die Entwicklung von der Idee über erste Skizzen bis hin zur Fertigstellung zu begleiten und teilweise auch aktiv mitzugestalten. Die Jugendlichen selbst haben sich das erarbeitet und diese große verschmutzte weiße Fläche nach und nach in ein sehenswertes Wandgemälde verwandelt und ihre eigenen Grenzen immer wieder erweitert und ein zunehmendes Selbstvertrauen entwickelt, das wesentlich Wertvolle an diesem Wandbild. Daran erkennt man, wie sinnvoll Jugendarbeit ist. Ich freue mich schon auf das nächste Projekt.
Martin Lehmann